Die unionsrechtswidrige Zuvielarbeit eines Polizeibeamten – und ihr Ausgleich
Ob und inwieweit der Mitgliedstaat von der Ermächtigung in Art. 16 Buchst. b) der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG) zur Ausdehnung des Bezugszeitraums für die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf bis zu vier Monaten Gebrauch macht, ist Sache der gesetzgebenden Organe des Mitgliedstaates. Die Ausübung der Ermächtigung ist nicht den das Recht anwendenden nationalen Gerichten in dem Sinne überantwortet, dass diese den Bezugszeitraum nach dem Aspekt der „Sachgerechtigkeit“ festlegen können1.
In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall beansprucht ein im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen stehender Polizeihauptkommissar (Besoldungsgruppe A 12 LBesO NRW) über die ihm bereits gewährte Dienstbefreiung hinaus weiteren Freizeitausgleich für verrichteten Bereitschaftsdienst. Der Polizeihauptkommissar leistete Bereitschaftsdienst in mehreren sog. geschlossenen Polizeieinsätzen: vom 29. bis zum 30.04.2011 in Bremen; vom 30.04.bis zum 2.05.2011 in Berlin; vom 06. bis zum 7.05.2011 in Köln; und vom 12. bis zum 15.01.2012 in Stuttgart. Von den angefallenen Bereitschaftsdienstzeiten in Höhe von insgesamt 47 Stunden rechnete das Land NRW dem Polizeihauptkommissar 23, 5 Stunden als Arbeitszeit an. Mit Schreiben vom Mai 2011; und vom Januar 2012 beantragte der Polizeihauptkommissar die Anerkennung und Vergütung der restlichen 23, 5 Stunden Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit. Das Polizeipräsidium Bochum lehnte dies mit Bescheid vom April 2014 ab. Nach der maßgebenden Verordnung über die Arbeitszeit der Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen (Arbeitszeitverordnung Polizei) sei Bereitschaftsdienst im Verhältnis 2:1 auszugleichen. Dieser Ausgleich sei erfolgt.
Ende April 2014 hat der Polizeihauptkommissar Klage erhoben mit den Anträgen, das Land NRW zu verpflichten, die restlichen Zeiten der geleisteten Bereitschaftsdienste (Antrag zu 1) sowie zukünftig zu leistende Bereitschaftsdienstzeiten in sog. geschlossenen Einsätzen (Antrag zu 2) als Arbeitszeit in vollem Umfang anzuerkennen. Nachdem das Land in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erklärt hat, den in der Zeit von Februar 2012 bis Juni 2017 geleisteten Bereitschaftsdienst in sog. geschlossenen Einsätzen in gleicher Weise zu behandeln, wie es sich aus der rechtskräftigen Entscheidung im vorliegenden Streitverfahren ergibt, hat der Polizeihauptkommissar den Antrag zu 2)) zurückgenommen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat den Bescheid vom April 2014 aufgehoben und das Land NRW verpflichtet, die restlichen Zeiten der geleisteten Bereitschaftsdienste in der Zeit vom 29.04.bis zum 2.05.2011; vom 06. bis zum 7.05.2011; und vom 12. bis zum 15.01.2012 als Arbeitszeit des Polizeihauptkommissars anzuerkennen, im Übrigen hat es das Verfahren eingestellt2. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat das Urteil des Verwaltungsgerichts auf die Berufung des beklagten Landes geändert und die Klage abgewiesen3. ur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die in der maßgebenden Arbeitszeitverordnung Polizei bestimmte nur hälftige Anrechnung von Bereitschaftsdienstzeiten unterliege keinen zur Unanwendbarkeit der Vorschrift führenden unionsrechtlichen Bedenken. Der nationale Gesetzgeber dürfe außerhalb arbeitsschutzrechtlicher Zusammenhänge zwischen Bereitschaftsdienst und Volldienst unterscheiden und den Umfang des Freizeitausgleichs von der Intensität der Inanspruchnahme abhängig machen. Sei ein Polizeibeamter innerhalb der unionsrechtlich zulässigen Arbeitszeit von 48 Wochenstunden rechtmäßig zu Bereitschaftsdienst herangezogen worden, gebiete weder das Unionsrecht noch der Grundsatz aus Treu und Glauben, Freizeitausgleich in voller Höhe zu gewähren. Ein Fall von unionswidriger Zuvielarbeit liege nicht vor. In dem – vom Oberverwaltungsgericht selbst bestimmten – Bezugszeitraum von vier Monaten sei die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum von 48 Stunden nicht überschritten worden.
Die vom Bundesverwaltungsgericht wegen Divergenz zugelassene Revision des Polizeihauptkommissars hatte vor dem Bundesverwaltungsgericht teilweise Erfolg. Das Berufungsurteil verletzt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die zur Ablehnung des unionsrechtlichen und des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs führende Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Bestimmung des maßgeblichen Bezugszeitraums für die Feststellung der Einhaltung der unionsrechtlich zulässigen wöchentlichen Höchstarbeitszeit sei bei einem (noch) fehlenden innerstaatlichen Umsetzungsakt den nationalen Gerichten in eigener Kompetenz überlassen, beruht auf einem nicht richtlinienkonformen Verständnis des Art. 6 Buchst. b) und des Art. 16 Buchst. b) der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG). Das Berufungsurteil stellt sich insoweit auch nicht im Sinne des § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar. Das Bundesverwaltungsgericht kann gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO die Entscheidung selbst treffen, weil es in der Sache keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen bedarf.
Nach Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet. Nach Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG können die Mitgliedstaaten für die Anwendung des Art. 6 RL 2003/88/EG4 einen Bezugszeitraum von bis zu vier Monaten vorsehen.
16 RL 2003/88/EG („Die Mitgliedstaaten können … vorsehen“) wendet sich an den Mitgliedstaat. Dieser ist zu der von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG abweichenden Festlegung des Bezugszeitraums („bis zu vier Monaten“) berechtigt, aber nicht verpflichtet. Ob und inwieweit der Mitgliedstaat von dieser Ermächtigung zu der für den Arbeitnehmer ungünstigen Ausdehnung des Bezugszeitraums auf bis zu vier Monaten Gebrauch macht, ist Sache der für die Rechtsetzung zuständigen Organe des Mitgliedstaates, weil nur sie die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Rechtsnormen erlassen können. Die Ausübung der Ermächtigung ist nicht den das Recht anwendenden nationalen Gerichten in dem Sinne überantwortet, dass diese den Bezugszeitraum nach dem Aspekt der „Sachgerechtigkeit“ festlegen können. Um die ihm eingeräumte Befugnis in Anspruch zu nehmen, muss der Mitgliedstaat auch die Entscheidung treffen, sich auf diese Ermächtigung zu berufen. Im Interesse der Rechtssicherheit muss diese Entscheidung des Mitgliedstaates bestimmt und klar sein5. Fehlt es an einer innerstaatlichen Umsetzung der unionsrechtlichen Ermächtigung nach Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG bestimmt sich die Frage einer unionswidrigen Zuvielarbeit nach dem jeweiligen Siebentageszeitraum im Sinne von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG6.
In dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebenden Zeitpunkt der Polizeieinsätze7 im April und Mai 2011 sowie im Januar 2012 mangelte es an der unionsrechtlich erforderlichen Umsetzung im Sinne von Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG durch das beklagte Land als innerstaatlichem Normgeber.
Die auf der Grundlage des § 111 Abs. 3 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbeamtengesetz – LBG NRW) vom 21.04.20098 erlassene Verordnung über die Arbeitszeit der Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen (AZVOPol) vom 15.08.19759, geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 12.11.201010, sah keine von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG abweichende Festlegung des Bezugszeitraums im Sinne von Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG für die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von Polizeivollzugsbeamten vor. Der Landesgesetzgeber hat erst mit der auf der Grundlage des § 110 Abs. 3 des Landesbeamtengesetzes vom 14.06.201611 erlassenen Bestimmung in § 3 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung über die Arbeitszeit der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten im Land Nordrhein-Westfalen (Arbeitszeitverordnung Polizei – AZVOPol) vom 05.05.201712, in Kraft getreten am 1.07.2017, von der Ermächtigung des Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG Gebrauch gemacht und einen viermonatigen Bezugszeitraum für die Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden im Polizeivollzugsdienst bestimmt.
Auch die im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Einsätze geltende allgemeine Regelung über die Arbeitszeit von Beamten in § 60 Abs. 2 Satz 2 LBG NRW 2009 erstreckte den Bezugszeitraum auf ein Jahr anstatt – wie nach Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG grundsätzlich möglich – auf bis maximal vier Monate. Denn § 60 Abs. 2 Satz 2 LBG NRW 2009 bestimmt, dass bei Dienst in Bereitschaft 48 Stunden einschließlich Mehrarbeitsstunden im wöchentlichen Zeitraum im Jahresdurchschnitt nicht überschritten werden dürfen.
Die sonstigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88/EG, die zu einer Verlängerung des Bezugszeitraums führen können – nach Art.19 Satz 2 RL 2003/88/EG bis zu zwölf Monate bei Festlegungen in Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern, greifen ebenso wenig zu Gunsten des Landes NRW ein. Art. 17 Abs. 3 Buchst. b) und Art. 18 RL 2003/88/EG setzen jeweils voraus, dass der Mitgliedstaat Regelungen im Sinne von Art. 16 RL 2003/88/EG erlassen hat, die den Anforderungen an die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht im Sinne von Art. 288 Abs. 3 AEUV genügen. Daran fehlt es aber ebenso wie an dem Gebrauchmachen von den genannten Befugnissen („sind … zulässig“ und „kann abgewichen werden“) durch den Erlass einer für die Umsetzung erforderlichen Rechtsnorm des innerstaatlichen Normgebers13.
Da das Land NRW im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Einsätze nicht von der Möglichkeit der Verlängerung des Bezugszeitraums auf bis zu vier Monate durch Erlass einer entsprechenden Rechtsnorm Gebrauch gemacht hat, bestimmt sich die Frage einer unionswidrigen Zuvielarbeit nach dem jeweiligen Siebentageszeitraum im Sinne von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG.
Das die Klage in vollem Umfang abweisende Urteil des Oberverwaltungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Leistungsklage des Polizeihauptkommissars ist zum Teil begründet. Gegenstand der Leistungsklage ist der in der Berufungsverhandlung protokollierte, gemäß § 88 VwGO sachdienlich zu fassende Antrag des Polizeihauptkommissars, den Land NRW unter Aufhebung des Bescheids des Polizeipräsidiums Bochum vom 09.04.2014 zu verurteilen, ihm für die im April und Mai 2011 sowie im Januar 2012 geleisteten Bereitschaftsdienste weitere Dienstbefreiung (Freizeitausgleich) im Umfang von insgesamt 23, 5 Stunden zu gewähren. Dieser geltend gemachte Anspruch steht dem Polizeihauptkommissar nicht wegen geleisteter Mehrarbeit gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW 2009 zu. Der Polizeihauptkommissar hat aber einen Anspruch auf weitere Dienstbefreiung im Umfang von 13, 16 Stunden wegen unionswidriger Zuvielarbeit jedenfalls auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs nach dem Grundsatz von Treu und Glauben.
Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW 2009 ist einem Beamten innerhalb eines Jahres für die über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistete Mehrarbeit entsprechende Dienstbefreiung zu gewähren, wenn er durch eine dienstlich angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit mehr als fünf Stunden im Monat über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beansprucht wird.
Die allgemeine Bestimmung über Mehrarbeit in § 61 LBG NRW 2009 findet auch auf die Beamtengruppe der Polizeivollzugsbeamten Anwendung. Gemäß § 110 Abs. 1 LBG NRW 2009 gelten für Polizeivollzugsbeamte die Vorschriften des Landesbeamtengesetzes, soweit nach den nachfolgenden Bestimmungen der §§ 111 ff. LBG NRW 2009 nichts anderes bestimmt ist. So liegt es hier. Denn die auf der Grundlage des § 111 Abs. 3 LBG NRW 2009 erlassene Arbeitszeitverordnung Polizei NRW a.F. enthält – anders als nunmehr § 10 AZVOPol NRW – keine Regelung über Mehrarbeit. Allerdings sind die Voraussetzungen eines Anspruchs nach § 61 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW 2009 nicht gegeben.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss sich die Anordnung oder Genehmigung von Mehrarbeit auf konkrete und zeitlich abgegrenzte Mehrarbeitstatbestände beziehen. Nicht erforderlich ist, dass im Zeitpunkt der Anordnung oder Genehmigung die Anzahl der zu leistenden oder bereits geleisteten Mehrarbeitsstunden bereits bekannt ist. Auch ist nicht erforderlich, dass der Dienstherr bei einer nach den dienstlichen Notwendigkeiten gegebenenfalls von einer Mehrzahl von Beamten zu leistenden Mehrarbeit dies gegenüber jedem Beamten einzeln entscheidet und anordnet. Er darf die Mehrarbeit auch in einer Weisung – etwa einem Einsatzbefehl – anordnen, die eine Gruppe von Beamten oder gar alle der bei einem bestimmten Anlass einzusetzenden Beamten erfasst. Die schlichte Festlegung von Arbeitszeiten in Dienstplänen oder Schichtplänen reicht dagegen nicht aus14.
Daran gemessen ist für die Einsätze des Polizeihauptkommissars keine Mehrarbeit angeordnet oder genehmigt worden. Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) liegen andere Tatsachen oder Unterlagen als die Einsatzbefehle für die streitgegenständlichen Einsatzmaßnahmen nicht vor. Die informatorische Befragung der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hat dies bestätigt. In den Einsatzbefehlen vom 26.04.2011; vom 28.04.2011; vom 03.05.2011; und vom 05.01.2012 ist keine Entscheidung über die Anordnung von Mehrarbeit getroffen worden. Sie enthalten keine Weisung des Inhalts, dass bereits mit dem jeweiligen Einsatzbefehl selbst sämtliche Überschreitungen der regelmäßigen Arbeitszeit als Mehrarbeit angeordnet sind. Die Entscheidung über Mehrarbeit blieb je nach den dienstlichen, einsatzabhängigen Notwendigkeiten einer weiteren, noch zu treffenden Anordnung des Einsatzführers überlassen.
Der Polizeihauptkommissar hat jedoch einen Anspruch auf weitere Dienstbefreiung für die in Form von Bereitschaftsdienst geleistete rechtswidrige Zuvielarbeit in einem Umfang von 13, 16 Stunden für den Einsatz im Januar 2012 auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB); ein weitergehender Anspruch steht ihm nicht zu.
Der Billigkeitsanspruch setzt eine rechtswidrige Inanspruchnahme des Beamten über die höchstens zulässige Arbeitszeit hinaus voraus15. Er kommt aber nur für die rechtswidrige Zuvielarbeit in Betracht, die ab dem auf die erstmalige Geltendmachung folgenden Monat geleistet wurde. Diese Voraussetzungen sind hier erst ab Juni 2011 erfüllt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt der beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch voraus, dass der Berechtigte diesen gegenüber seinem Dienstherrn schriftlich geltend macht (Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung). Ansprüche, deren Festsetzung und Zahlung sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, bedürfen einer vorherigen Geltendmachung16. Denn hier ist eine vorgängige Entscheidung über Grund und Höhe der begehrten Zahlung erforderlich. Für Ansprüche wegen rechtswidriger Zuvielarbeit gilt dies in besonderer Weise. Diese sind nicht primär auf die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs gerichtet, sondern auf die Beseitigung des rechtswidrigen Zustands. Für den Beamten folgt aus der beamtenrechtlichen Treuepflicht die Obliegenheit, seinen Dienstherrn mit einem auf eine solche Behauptung gestützten Anspruch alsbald zu konfrontieren, um ihm die Möglichkeit zu geben zu reagieren17. Dadurch ist zunächst eine Prüfung seines Dienstherrn veranlasst, ob eine Änderung der Arbeitszeitgestaltung erforderlich ist und ob eine rechtswidrige Zuvielarbeit – etwa durch Anpassung der maßgeblichen Dienstpläne – vermieden oder durch die Gewährung von Freizeitausgleich kompensiert werden kann. Auch hinsichtlich der möglichen finanziellen Ausgleichspflicht hat der Dienstherr ein berechtigtes Interesse daran, nicht nachträglich mit unvorhersehbaren Zahlungsbegehren konfrontiert zu werden18.
Der Beamte wird durch das Erfordernis der schriftlichen Geltendmachung des Anspruchs gegenüber seinem Dienstherrn nicht unzumutbar belastet. Denn an die Rüge des Berechtigten sind keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Es reicht aus, wenn sich aus der schriftlichen Äußerung ergibt, dass der Beamte mit der jeweiligen Situation – hier dem Umfang der Arbeitszeit – nicht einverstanden ist. Weder ist ein Antrag im rechtstechnischen Sinne erforderlich noch muss Freizeitausgleich, hilfsweise finanzieller Ausgleich, beantragt oder der finanzielle Ausgleich konkret berechnet werden. Der Beamte kann dem Erfordernis der schriftlichen Geltendmachung in jeder beliebigen Textform gerecht werden, etwa auch per E-Mail19.
Der Polizeihauptkommissar hat erst nach seinen Einsätzen Ende April und Anfang Mai 2011 mit seinen Schreiben vom 12.05.2011, bei dem Land NRW am 18.05.2011 eingegangen, erklärt, dass er den Umfang seiner Arbeitszeit nicht akzeptiert. Nach Wortlaut und Sinnzusammenhang (§ 133 BGB analog) hat der Polizeihauptkommissar mit diesen Schreiben hinreichend deutlich gemacht, dass er die Anerkennung von Bereitschaftsdienstzeiten als Arbeitszeit nicht nur für die Einsätze in der Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft geltend macht. Er hat zur Begründung seiner Anträge unter Berufung auf obergerichtliche Rechtsprechung ausgeführt, dass es nach EU-Gemeinschaftsrecht geboten sei, Bereitschaftsdienst in vollem Umfang in die Arbeitszeit einzubeziehen. Es ging dem Polizeihauptkommissar ersichtlich auch darum, den Dienstherrn dazu anzuhalten, diese Rechtsprechung zu beachten und zukünftig die Arbeitszeit ihrem Umfang nach unionsrechts- und rechtskonform zu planen und zu gestalten. Damit hat er seiner Rügeobliegenheit genügt.
Der geltend gemachte Anspruch ist für den nach der Rüge des Polizeihauptkommissars geleisteten Bereitschaftsdienst im Polizeieinsatz in Stuttgart im Januar 2012 dem Grunde nach gegeben. Ein Fall der Zuvielarbeit über die Grenze der wöchentlichen Höchstarbeitszeit gemäß Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG liegt vor. Nach den das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ergibt sich der Umfang der vom Polizeihauptkommissar geleisteten Arbeitszeit aus den vom Land NRW vorgelegten Screenshots der digitalen Arbeitszeiterfassung (DMS-Datenbank). Danach hat der Polizeihauptkommissar in der 2. Kalenderwoche 2012 (9. bis 15.01.2012) neben dem Normaldienst in der Zeit vom 09. bis zum 11.01.2012 von insgesamt 25 Stunden in der Zeit seines Einsatzes in Stuttgart vom 12. bis zum 15.01.2012 weitere 53, 5 Stunden Volldienst und 26, 5 Stunden Bereitschaftsdienst verrichtet. Damit hat er anstelle der unionsrechtlich zulässigen 48 Wochenstunden in dem hier maßgebenden Siebentageszeitraum 105 Stunden als Arbeitszeit anzu Dienst geleistet.
Unter Arbeitszeit ist nach Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG jede Zeitspanne zu verstehen, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unterfallen dieser Begriffsbestimmung auch Zeiten des Bereitschaftsdienstes – einschließlich der „inaktiven Zeiten“ – ohne Abstriche als Arbeitszeit, wenn sich der Beamte an einem vom Dienstherrn bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort geeignete Leistungen erbringen zu können20.
Daran gemessen ist der vom Polizeihauptkommissar bei der Einsatzmaßnahme in Stuttgart geleistete Bereitschaftsdienst in vollem Umfang als Arbeitszeit in die Berechnung der wöchentlichen Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum einzubeziehen. Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) musste sich der Polizeihauptkommissar während des Bereitschaftsdienstes an einem vom Dienstherrn bestimmten Ort in Stuttgart aufhalten, um bei Bedarf jederzeit zum Einsatz bereit zu sein.
Der für diese Einsatzmaßnahme in Stuttgart noch zuzusprechende Anspruch auf weiteren Freizeitausgleich beläuft sich der Höhe nach auf 13, 16 Stunden. Nach den das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ergibt sich der Umfang des Arbeitszeitguthabens des Polizeihauptkommissars aus dem DMS-Auszug seines Arbeitszeitkontos für den Monat Januar 2012, den das Land NRW vorgelegt hat. Danach sind für die 2. Kalenderwoche 2012 „lediglich“ 91, 44 Stunden als Arbeitszeit des Polizeihauptkommissars gebucht worden. Im Vergleich zu den als Arbeitszeit anzu 105 Stunden besteht eine Differenz von 13, 16 Stunden, die noch in Freizeit auszugleichen ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts21 ist der beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch wegen unionsrechtswidriger Zuvielarbeit primär auf angemessenen Ausgleich in Freizeit gerichtet. Als angemessen ist der zeitliche Ausgleich von unionswidriger Zuvielarbeit grundsätzlich dann anzusehen, wenn er ebenso lang ist wie der zuvor geleistete rechtswidrig geforderte Dienst (Ausgleich 1:1); Zeiten des Bereitschaftsdienstes sind in vollem Umfang auszugleichen. Dieser Anspruch wandelt sich nur dann in einen solchen auf finanziellen Ausgleich (Geldanspruch in Anlehnung an das Mehrarbeitsrecht) um, wenn der Gewährung des Freizeitausgleichs innerhalb eines Jahreszeitraums nach seiner Anerkennung zwingende dienstliche Gründe entgegenstehen. Solche Gründe hat das Land NRW hier nicht dargetan.
Angemerkt sei, für die Höhe des Ausgleichsanspruchs ist ohne Belang, dass die Regelung in § 3 Abs. 3 Satz 3 AZVOPol NRW a.F. nur einen hälftigen Ausgleich von Bereitschaftsdienstzeiten vorsieht. Zwar darf der nationale Gesetzgeber außerhalb arbeitsschutzrechtlicher Zusammenhänge zwischen Bereitschaftsdienst und Volldienst unterscheiden und den Umfang des Freizeitausgleichs von der Intensität der Inanspruchnahme abhängig machen22. Hier liegt aber ein arbeitsschutzrechtlicher Fall der unionsrechtswidrigen Zuvielarbeit vor, die in vollem Umfang auszugleichen ist. Eine dem widersprechende verordnungsrechtliche Arbeitszeitbestimmung ist unionsrechtswidrig und hat deshalb außer Anwendung zu bleiben.
Daneben steht dem Polizeihauptkommissar für die unionsrechtswidrig geleistete Zuvielarbeit der unionsrechtliche Haftungsanspruch zu, der zu derselben Rechtsfolge führt.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17. Februar 2022 – 2 C 5.21
- Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung: BVerwG, Urteil vom 17.09.2015 – 2 C 26.14 [↩]
- VG Gelsenkirchen, Urteil vom 13.06.2018 – 1 K 2081/14 [↩]
- OVG NRW, Urteil vom 15.09.2020 – 6 A 2634/18 [↩]
- wöchentliche Höchstarbeitszeit [↩]
- EuGH, Urteil vom 21.10.2010 – C-227/09, Accardo, Slg. 2010, I-10273 Rn. 50 f. m.w.N. und Rn. 55 [↩]
- stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17.09.2015 – 2 C 26.14, Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 57 und 59; und vom 20.07.2017 – 2 C 31.16, BVerwGE 159, 245 Rn. 53 f. [↩]
- vgl. BVerwG, Urteil vom 29.04.2021 – 2 C 18.20, BVerwGE 172, 254 Rn. 16 [↩]
- GV. NRW. S. 224 – LBG NRW 2009 [↩]
- GV. NRW. S. 532 [↩]
- GV. NRW. S. 614 – Arbeitszeitverordnung Polizei NRW a.F., AZVOPol NRW a.F. [↩]
- GV. NRW. S. 310 – LBG NRW 2016 [↩]
- GV. NRW. S. 576 – AZVOPol NRW [↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 17.09.2015 – 2 C 26.14, Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 61; und vom 20.07.2017 – 2 C 31.16, BVerwGE 159, 245 Rn. 56 [↩]
- vgl. BVerwG, Urteil vom 29.04.2021 – 2 C 18.20 – 172, 254 Rn. 33 ff. m.w.N. [↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 29.09.2011 – 2 C 32.10, BVerwGE 140, 351 Rn. 8; und vom 26.07.2012 – 2 C 29.11, BVerwGE 143, 381 Rn. 26 [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 22.03.1990 – 2 BvL 1/86, BVerfGE 81, 363 <384 f.> BVerwG, Urteile vom 26.07.2012 – 2 C 29.11, BVerwGE 143, 381 Rn. 27; und vom 29.09.2011 – 2 C 32.10, BVerwGE 140, 351 Rn.19 [↩]
- vgl. BVerwG, Urteil vom 13.11.2008 – 2 C 16.07, Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 101 Rn. 21 [↩]
- BVerwG, Urteil vom 21.09.2006 – 2 C 5.06, Buchholz 240 § 40 BBesG Nr. 38 Rn. 15 [↩]
- BVerwG, Urteile vom 27.05.2010 – 2 C 33.09, Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 117 Rn. 15; vom 26.07.2012 – 2 C 29.11, BVerwGE 143, 381 Rn. 27; vom 17.09.2015 – 2 C 26.14, Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 29; und vom 19.04.2018 – 2 C 40.17, BVerwGE 161, 377 Rn. 29 [↩]
- vgl. EuGH, Urteile vom 09.09.2003 – C-151/02, Jaeger, Slg. 2003, I-8415 Rn. 63; vom 05.10.2004 – C-397/01 u.a., Pfeiffer u.a., Slg. 2004 I-8878 Rn. 93; vom 01.12.2005 – C-14/04, Dellas, Slg. 2005, I-10279 Rn. 48; und vom 21.02.2018 – C-518/15, Matzak – NJW 2018, 1073 Rn. 59; vom 09.03.2021 – C-344/19, Radiotelevizija Slovenija – NZA 2021, 485 Rn. 35 und – C-580/19, Stadt Offenbach am Main – NZA 2021, 489 Rn. 36; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 29.04.2021 – 2 C 18.20, BVerwGE 172, 254 Rn. 27 ff. [↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 29.09.2011 – 2 C 32.10, BVerwGE 140, 351 Rn. 15 ff.; vom 26.07.2012 – 2 C 29.11, BVerwGE 143, 381 Rn. 30 f., 36 f., 40; und vom 19.04.2018 – 2 C 40.17, BVerwGE 161, 377 Rn. 43 sowie Beschluss vom 20.10.2020 – 2 B 36.20, Buchholz 451.90 Sonstiges Europäisches Recht Nr. 238 Rn. 24 [↩]
- BVerwG, Urteil vom 29.04.2021 – 2 C 18.20 – 172, 254 Rn. 40 [↩]