Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens – nach Erlass eines Disziplinargerichtsbescheids
Für das Ergehen eines Disziplinargerichtsbescheids bedarf es keiner ausdrücklichen Zustimmung des Wehrdisziplinaranwalts oder des Soldaten. Es genügt das Ausbleiben eines Widerspruchs. Der nach Erlass eines Disziplinargerichtsbescheids eingelegte Widerspruch begründet keinen Wiederaufnahmegrund nach § 129 Abs. 1 Nr. 2 WDO analog.
Ein rechtskräftig abgeschlossenes gerichtliches Disziplinarverfahren, wie § 129 Abs. 1 Halbs. 1 WDO es voraussetzt, liegt in einem solchen Fall vor. Zwar wurde es nicht durch Urteil abgeschlossen, sondern durch Disziplinargerichtsbescheid. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 WDO steht dieser jedoch mit seiner Zustellung an den Soldaten einem rechtskräftigen Urteil gleich. Ein Wiederaufnahmegrund nach § 129 Abs. 1 Nr. 2 WDO besteht jedoch nicht.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob Tatsachen im Sinne des § 129 Abs. 1 Nr. 2 WDO nur solche sind, die das materielle und nicht auch das Prozessrecht betreffen1. Denn selbst wenn man entsprechend dem weiteren Wortlaut der Norm prozessuale Tatsachen wie die vom Soldaten behaupteten Widersprüche gegen den Erlass eines Disziplinargerichtsbescheids – im Rahmen eines Telefonats mündlich sowie am 1.06.2021 schriftlich – einbezieht, würde dies im vorliegenden Fall nicht zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen. Weder bedurfte es einer ausdrücklichen Zustimmung des Soldaten zum Erlass eines Disziplinargerichtsbescheids noch liegen Widersprüche vor, die zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens veranlassen.
Anders als zum Teil vertreten2, bedurfte es keiner ausdrücklichen Zustimmung des Soldaten zum Ergehen des Disziplinargerichtsbescheids. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut steht dem Erlass eines Disziplinargerichtsbescheids nur ein Widerspruch entgegen. Dem entspricht, dass die Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung anderer Vorschriften ebenfalls vom „Ausbleiben eines Widerspruchs“ binnen einer gerichtlich bestimmten Frist spricht3 und der Bundesgesetzgeber durch Regelungen wie § 59 Abs. 1 Satz 2 BDG sogar von einer fingierten Zustimmung ausgeht4, wenn kein Widerspruch erfolgt.
An rechtswirksamen Widersprüchen fehlt es.
Soweit es den behaupteten, im Rahmen eines Telefonats mündlich erhobenen Widerspruch betrifft, kann dahingestellt bleiben, ob er nicht ohnehin der Schriftform bedurft hätte; jedenfalls hat der Soldat den Nachweis dessen nicht „erbracht“ im Sinne des § 129 Abs. 1 Nr. 2 WDO. Die schlichte, ohne Angabe von Datum und Uhrzeit und auch nicht durch anwaltliche Versicherung aufgestellte Behauptung des Verteidigers, bereits im Rahmen eines Telefonats Widerspruch erhoben zu haben, erbringt nicht den Nachweis eines dem Truppendienstgericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung subjektiv unbekannten5 Widerspruchs als neuen Umstand im Sinne des § 129 Abs. 2 Nr. 2 WDO. Dies gilt umso mehr, als der Vorsitzende der Truppendienstkammer allein ein Telefonat am 22.02.2021 erwähnt und – ungeachtet einer etwaigen Erklärung des aktuellen Verteidigers – zutreffend auf ein zu diesem Zeitpunkt nicht bestehendes Mandatsverhältnis hingewiesen hat, nachdem der aktuelle Verteidiger das Mandat im Juli 2018 zunächst niedergelegt hatte.
Der im vorliegenden Fall am 1.06.2021 schriftsätzlich erhobene Widerspruch begründet ebenfalls keinen Wiederaufnahmegrund.
Zwar handelt es sich um eine neue Tatsache, die dem Gericht bei seiner Entscheidung nicht bekannt gewesen ist im Sinne des § 129 Abs. 2 Nr. 2 WDO. Denn der Disziplinargerichtsbescheid gelangte bereits am 31.05.2021 und somit vor Eingang des Widerspruchs zur Geschäftsstelle. Bei einer Entscheidung, die außerhalb einer Hauptverhandlung ergeht und nicht verkündet wird, ist sie zwar regelmäßig erst dann unabänderbar, wenn ihn die Geschäftsstelle an eine Behörde oder Person außerhalb des Gerichts hinausgegeben hat und eine Abänderung tatsächlich unmöglich ist. Hiervon sind jedoch Beschlüsse ausgenommen, die unmittelbar die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung herbeiführen. Sie sind bereits dann erlassen, wenn sie mit der Unterschrift des Richters versehen in den Geschäftsgang gegeben werden6. Das Bundesverwaltungsgericht überträgt diese Wertung auf den Disziplinargerichtsbescheid, der nach § 102 Abs. 2 Satz 2 WDO unanfechtbar in Rechtskraft erwächst. Da die Entscheidung des Vorsitzenden über den Disziplinargerichtsbescheid somit jedenfalls mit dem Zugang zur Geschäftsstelle am 31.05.2021 ergangen war, bildete der Eingang des Widerspruchs am 1.06.2021 eine neue Tatsache.
Diese Tatsache war indes nicht mehr erheblich im Sinne des § 129 Abs. 2 Nr. 2 WDO.
Dies folgt nicht bereits daraus, dass der Widerspruch von einem dazu nicht (mehr) befugten Verteidiger eingelegt worden wäre. Die vom Truppendienstgericht gegenüber Rechtsanwalt S im Hinblick auf das Verbot der Mehrfachverteidigung nach § 146 StPO geäußerten Bedenken hatte es nicht durch einen Zurückweisungsbeschluss nach § 146a Abs. 1 Satz 1 StPO abschließend festgestellt; erst durch eine solche förmliche Entscheidung wären dessen Verteidigungsbefugnisse verloren gegangen7. Die am 2.07.2018 erklärte Mandatsniederlegung war zudem – wie bereits angesprochen – dadurch gegenstandslos geworden, dass der Beschwerdeführer unter dem 24.02.2021 erklärt hatte, Rechtsanwalt S vertrete ihn weiterhin.
Im Hinblick darauf hat das Truppendienstgericht die (erneute) Ankündigung eines Disziplinargerichtsbescheids auch zutreffend an Rechtsanwalt S adressiert, der ausweislich der Vollmacht vom 06.07.2018 gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 145a Abs. 1 Satz 1 StPO als ermächtigt galt, Zustellungen und sonstige Mitteilungen für den Beschwerdeführer in Empfang zu nehmen. Die Ankündigung durfte auch über das besondere elektronische Anwaltspostfach erfolgen, da der durch Art. 7 Nr. 17 des Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2008 – WehrRÄndG 2008) vom 31.07.20088 in § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO eingefügte Verweis auf § 55a VwGO dessen Abs. 7 einschließt. Aus ihm folgt9, dass es im Ermessen der Verwaltungsgerichte10 und – wegen der Verweisungsnorm des § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO – somit auch der Wehrdienstgerichte steht, Mitteilungen an Rechtsanwälte in deren besonderes elektronisches Anwaltspostfach zu übermitteln. Hierbei verpflichtet der durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom 12.05.201711 eingeführte § 31a Abs. 6 BRAO Rechtsanwälte dazu, gerichtliche Zustellungen und Mitteilungen zur Kenntnis zu nehmen (passive Nutzungspflicht)12. Zwar liegt kein Empfangsbekenntnis (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 37 Abs. 1 StPO, § 175 Abs. 1 ZPO) des Rechtsanwalts S darüber vor, dass die mit richterlicher Verfügung vom 08.04.2021 unter Fristsetzung ausgesprochene Ankündigung des Disziplinargerichtsbescheids bei ihm eingetroffen ist; dieser hat deren Eingang über das besondere elektronische Anwaltspostfach indes weder in seinen Schriftsätzen vom 01.06.2021 noch in seiner Beschwerdebegründung in Abrede gestellt. Dem entspricht, dass er in der Beschwerdebegründung – wie dargelegt, in der Sache unzutreffend – ausführt, allein das Schweigen zur Ankündigung eines Disziplinargerichtsbescheids stehe dem Erlass eines Disziplinargerichtsbescheids entgegen.
Die gesetzte Widerspruchsfrist war im vorliegenden Fall auch nicht unangemessen13. Sie gewährleistete mit zwei Wochen ausreichend rechtliches Gehör, zumal die Ladungsfrist in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zwei (§ 102 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und bei wehrdienstgerichtlichen Streitigkeiten eine Woche (§ 103 Abs. 2 Halbs. 1 WDO) beträgt.
Ebensowenig ist der Widerspruch deshalb unerheblich, weil er nicht binnen der dem Soldaten unter dem 8.04.2021 gesetzten Frist von zwei Wochen, die somit gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 43 Abs. 1 Halbs. 1 StPO am 23.04.2021 ablief, beim Truppendienstgericht eingegangen ist. Denn die Frist ist keine Präklusionsfrist. Dies hätte eine Art.19 Abs. 4 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art.20 Abs. 3 GG berührende Rechtswegerschwerung zur Folge, für die es einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft hätte. Dies gilt umso mehr, als mit dem Ergehen eines Disziplinargerichtsbescheids der Anspruch auf mündliche Verhandlung nach Art. 6 EMRK unmittelbar berührt wird14. Die richterliche und durch § 102 Abs. 1 Satz 2 WDO vorausgesetzte Frist bildet mithin lediglich eine Sperrfrist, innerhalb derer der Disziplinargerichtsbescheid nicht ergehen darf.
Ist ein Disziplinargerichtsbescheid bereits im Sinne von § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 33 Abs. 2 StPO erlassen, ist ein danach erhobener Widerspruch indes nicht mehr erheblich im Sinne des § 129 Abs. 2 Satz 1 WDO. Denn nach dem Erlass einer verfahrensrechtlichen Entscheidung können keine Prozesserklärungen mehr abgegeben werden15. Es würde dem mit einem Disziplinargerichtsbescheid verfolgten Sinn und Zweck des Verfahrensabschlusses zuwiderlaufen, einem nach seinem Erlass erhobenen Widerspruch noch Bedeutung beizumessen. Einem nach ordnungsgemäßer Fristsetzung und erst nach Ergehen des Disziplinargerichtsbescheids eingelegten Widerspruch im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens Bedeutung beizumessen, würde in der Sache zu einem ordentlichen Rechtsbehelf führen, den das Gesetz ausdrücklich ausschließt.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Dezember 2022 – 2 WDB 7.22
- Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl.2022, § 359 Rn. 22; Singelnstein, in: BeckOK, StPO, Stand Oktober 2022, § 359 Rn. 21; Temming, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl.2019, § 359 Rn. 15; Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl.2022, § 129 Rn. 9 a. E. [↩]
- vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl.2022, § 102 Rn. 7 [↩]
- vgl. BT-Drs. 14/4660 S. 35 [↩]
- vgl. Gansen, in: Gansen, Disziplinarrecht in Bund und Ländern, Stand Januar 2014, § 67 Rn. 11 [↩]
- vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21.12.2004 – 1 Ws 211/04 – NStZ-RR 2005, 179 <180> [↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 10.05.2011 – 3 StR 72/11 – NStZ 2011, 713 <713> OLG Oldenburg, Beschluss vom 01.03.2021 – 2 Ss (OWi) 6/21 – NStZ-RR 2021, 222 <222> Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl.2022, Vor § 33 Rn. 9 [↩]
- Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl.2022, § 146a Rn. 1 [↩]
- BGBl. I S. 1629 [↩]
- vgl. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl.2021, § 55a Rn. 18; Sächs. OVG, Beschluss vom 17.03.2020 – 5 E 108/19 – LKV 2020, 558 [↩]
- vgl. Sächs. OVG, Beschluss vom 17.03.2020 – 5 E 108/19 – LKV 2020, 558 <559> [↩]
- BGBl. I S. 1121 [↩]
- vgl. LAG Kiel, Beschluss vom 19.09.2019 – 5 Ta 94/19 – NZA-RR 2019, 659 Rn. 15 [↩]
- vgl. Karcher, NZWehrr 2002, 232 <236 ff.> [↩]
- BVerwG, Beschluss vom 28.09.2021 – 2 WNB 2.21, BVerwGE 173, 290 Rn. 12; zu den Ausnahmen: Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl.2022, Kap. 14 Rn. 132 [↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 10.05.2011 – 3 StR 72/11 – NStZ 2011, 713 für Rücknahmen [↩]